Ergebnisse der aktuellen Forschung im Bereich der niederdeutschen Sprachwissenschaft - wie immer erhellend und innovativ:
Anja Becker, München, befasst sich unter dem Titel "Singen, Tanzen und Schenken" mit Neujahrsliedern in der Berliner Liederhandschrift mgf 922 und der Gruuthuse Handschrift, Liedersammlungen aus dem frühen 15. Jh. Die Lieder entstammen unterschiedlichen sozialen Kontexten, haben aber in ihren Motiven beträchtliche Ähnlichkeiten.
Marijke van der Wal zeigt auf, dass im Hamburg des 17. Jh. keineswegs eine niederdeutsch-niederländische Diglossie herrschte, sondern das Niederländisch abhängig von den familiären Verbindungen sehr unterschiedlich präsent war und als Kontaktsprache Einfluss auch auf die Alltagssprache im Handel hatte. Im Fokus steht jedoch der private Schriftverkehr der niederländischen Minderheit in der Hansestadt.
Auch im Artikel "Niederländisch-niederdeutscher SPrachkontakt in ostfriesischen und emsländischen Briefen des 19. Jahrhunderts" geht es um Niederländischen und Niederdeutsch. Die nicht bildungsbürgerlichen Autoren der untersuchten Korrespondenz orientieren sich am Niederländischen, unterwerfen sich jedoch keinem Standard, sondern entwerfen quasi ihre eigene Schriftsprache im Blick auf die in den Niederlanden lebenden Empfänger ihrer Briefe, allesamt aus dem Emsland und Ostfriesland stammende Verwandte.
Hermann Niebaum, langjähriger Lehrstuhlinhaber in Groningen und ebenso langjähriger Vorsitzender des Bemer INS schreibt in "Vom sprachlichen Kontinuum zu dessen Auflösung an der Staatsgrenze" einen Grundlagenartikel zur Sprachgeschichte der Grenzregion und behandelt quasi nebenbei die Geschichte der Aufspaltung (Bifurkation) des Niederdeutschen in Niederdeutsch und Niederländisch, nebenbei liefert er die bemerkenswerte Begriffsgeschichte dazu. Im letzten Teil stehen die Dialektliteratur des Grenzraumes und die Sprachschutzbemühungen im Rahmen der Sprachencharta im Fokus.
Markus Denkler behandelt in "Zum POS-Progressiv in den westfälischen Dialekten" das Phänomen des Progressivs wie "He sitt dao to ulen" (Er gähnt gerade / ist gerade müde.) auf Grundlage des Archivs des Westfälischen Wörterbuchs und von Augustin Wibbelts Werk.
Abschließend untersucht Jeffrey Pheiff "Grammatikalisierung im Raum? Zu Variation und Wande des Definitartikels in den niedersächsischen Dialekten Groningens und Drenthes".
Mehrere Rezensionen schließen den Band ab.
ISBN: 978-3-06717-121-1
Husum: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft 2022, 175 S.